ZWeR 2009, 503

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH, Köln 1611-1982 Zeitschrift für Wettbewerbsrecht ZWeR 2009 EntscheidungsbesprechungenThomas Kapp* / Anke Schumacher**

Das ETI-Urteil des EuGH: Nichts Neues aus Luxemburg?

Die Entscheidung des EuGH vom 11. Dezember 2007 im Vorabentscheidungsverfahren ETI (Rs C-280/06) befasst sich mit der Frage, in welchen Fällen der Unternehmensrechtsnachfolger auch für Kartellrechtsverstöße, welche noch vor der Rechtsnachfolge begangen wurden, „einheitlich sanktioniert“ werden kann. Zentrales Kriterium ist hierfür nach der ETI-Entscheidung die „strukturelle Verbundenheit“, welche bereits in der Aalborg-Rechtsprechung entwickelt wurde. Ob die Anwendung der so genannten Aalborg-Doktrin und deren weitere Etablierung mit der ETI-Entscheidung zu sachgerechten Ergebnissen führen, ist jedoch zweifelhaft. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Grundsätze von Aalborg und ETI verfehlt sind und nur eine konsequente Anwendung der Anic-Rule zu angemessenen Lösungen führt.
Leitsätze des Gerichts:
1. Weder aus dem Wortlaut des Art. 234 EG noch aus dem Zweck des dort vorgesehenen Verfahrens geht hervor, dass die Verfasser des Vertrags von der Zuständigkeit des Gerichtshofs Vorabentscheidungsersuchen hätten ausschließen wollen, die eine Gemeinschaftsbestimmung in dem besonderen Fall betreffen, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaats auf sie verweist, um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt zu regeln.
Wenn sich eine nationale Rechtsvorschrift zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen richtet, besteht nämlich ein klares Gemeinschaftsinteresse daran, dass die vom Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden. (vgl. Rz. 21 – 22)
2. Verstößt eine Einrichtung, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, gegen die Wettbewerbsregeln, hat sie unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen. Einer Einrichtung, die nicht Urheberin der Zuwiderhandlung ist, können dafür unter bestimmten Umständen dennoch Sanktionen auferlegt werden. Ein solcher Fall liegt vor, wenn die Einrichtung, die die Zuwiderhandlung begangen hat, rechtlich oder wirtschaftlich nicht mehr besteht. Zudem hat angesichts des Ziels, gegen die Wettbewerbsregeln verstoßende Verhaltensweisen zu ahnden und ihrer Wiederholung durch abschreckende Sanktionen vorzubeugen, eine rechtliche oder organisatorische Änderung einer Einrichtung, die gegen Wettbewerbsregeln verstoßen hat, nicht zwingend zur Folge, dass ein neues, von der Haftung für wettbewerbswidrige Handlungen seines Vorgängers befreites Unternehmen entsteht, sofern die beiden Einrichtungen wirtschaftlich gesehen identisch sind. Insoweit kommt der Rechtsform der Einrichtung, die eine Zuwiderhandlung begangen hat, und der ihres Rechtsnachfolgers sowie dem Umstand, dass eine Übertragung von Tätigkeiten nicht von Einzelnen, sondern vom Gesetzgeber zwecks Privatisierung beschlossen wurde, keine Bedeutung zu.
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In einem Fall, in dem die wirtschaftlichen Tätigkeiten einer Einrichtung auf dem von einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln betroffenen Markt von einer anderen Einrichtung fortgeführt wurden, kann die zweitgenannte Einrichtung im Rahmen des diese Zuwiderhandlung betreffenden Verfahrens auch dann als wirtschaftliche Nachfolgerin der erstgenannten Einrichtung angesehen werden, wenn diese als Wirtschaftsteilnehmer auf anderen Märkten noch besteht. In diesem Fall ist die Tatsache, dass die erstgenannte Einrichtung keine Rechtspersönlichkeit besitzt, kein Umstand, der es rechtfertigen kann, die Sanktion für die von ihr begangene Zuwiderhandlung ihrem Nachfolger aufzuerlegen, doch kann dies dadurch gerechtfertigt sein, dass beide Einrichtungen derselben öffentlichen Stelle unterstehen. Denn wenn zwei Einrichtungen eine wirtschaftliche Einheit bilden, hindert der bloße Umstand, dass die Einrichtung, die die Zuwiderhandlung begangen hat, noch besteht, für sich allein nicht daran, der Einrichtung, auf die sie ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten übertragen hat, eine Sanktion aufzuerlegen. Eine solche Ahndung ist insbesondere dann zulässig, wenn diese Einrichtungen der Kontrolle derselben Person unterstanden und sie somit in Anbetracht der zwischen ihnen auf wirtschaftlicher und organisatorischer Ebene bestehenden engen Bindungen im Wesentlichen dieselben geschäftlichen Leitlinien anwandten.
Folglich können in einem Fall, in dem eine Verhaltensweise, die eine einheitliche Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln darstellt, von einer Einrichtung, die einer öffentlichen Stelle untersteht, begangen und dann von einer anderen, derselben öffentlichen Stelle unterstehenden Einrichtung bis zum Abschluss fortgeführt wird, wobei die zweitgenannte Einrichtung Rechtsnachfolgerin der erstgenannten Einrichtung ist und diese noch besteht, der zweitgenannten Einrichtung wegen der gesamten Zuwiderhandlung Sanktionen auferlegt werden, sofern nachgewiesen ist, dass beide Einrichtungen der Aufsicht der genannten Stelle unterstehen. (vgl. Rz. 38 – 49, 52 und Tenor)

Inhaltsübersicht

  • I. Einführung
  • II. Sachverhalt
    • 1. Ente tabacchi italiani – ETI SpA
    • 2. Der Kartellrechtsverstoß
    • 3. Vorangegangene nationale Gerichtsverfahren
    • 4. Rechtsrahmen des nationalen Rechts
  • III. Das Verfahren vor dem EuGH
    • 1. Zuständigkeit des EuGH
    • 2. Verantwortlichkeit der ETI SpA
  • IV. Kritik
    • 1. Zuständigkeit des EuGH
      • 1.1 Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsersuchens
      • 1.2 Zulässiger Vorlagegegenstand
    • 2. Verantwortlichkeit der ETI SpA
      • 2.1 Die Aalborg-Entscheidung
      • 2.2 Anwendbarkeit der Aalborg-Doktrin auf die ETI-Entscheidung?
  • V. Praktische Konsequenzen der ETI-Entscheidung
    • 1. Gesetzlicher Regress des einheitlich sanktionierten Unternehmens
      • 1.1 Schadensersatzanspruch nach § 33 Abs. 3 GWB
      • 1.2 Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 1 i. V. m. §§ 830, 840 BGB analog
    • 2. Vertraglicher Regress des Käufers des Rechtsnachfolgers
    • 3. Zwischenergebnis
  • VI. Schlussfolgerung für die künftige Rechtsprechung
    • 1. Präzisierung der Anic-Rule
    • 2. Kein Ermessen hinsichtlich Adressatenauswahl
  • VII. Fazit
*
*)
Dr. iur., LL.M. (University of California), Rechtsanwalt und Partner – Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Stuttgart
**
**)
Rechtsanwältin – Luther Rechtsanwaltgesellschaft mbH, Stuttgart. Die Autoren danken Herrn Rechtsreferendar Daniel Gärtner für die wertvolle Unterstützung bei der Materialsammlung und der Manuskriptbearbeitung.

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