Besondere Beachtung verdient die vom BGH vorgenommene Prüfung der durch das Gemeinschaftsunternehmen bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen. Zwar postulierte er, wie schon in der „Mischwerke“-Entscheidung, die „Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalles“ und relativiert dogmatische Kriterien wie die Abgrenzung zwischen kooperativen und konzentrativen Gemeinschaftsunternehmen zu bloßen Hilfen der richterlichen Entscheidungsfindung. Die konkrete Prüfung aber, ob das Gemeinschaftsunternehmen eine Wettbewerbsbeschränkung bewirkt, bewegt sich auf der Ebene erstaunlich generalisierender Aussagen, die nur wenig Bezug zum Einzelfall aufweisen.
Ausgangspunkt der Prüfung des BGH ist die Feststellung, eine Beschränkung des Wettbewerbs sei regelmäßig zu erwarten, wenn die Muttergesellschaften auf demselben sachlichen und räumlichen Markt tätig blieben wie das Gemeinschaftsunternehmen. Diese Erwartung hat ihren Niederschlag auch in der Praxis der EU-Kommission gefunden. In der mittlerweile außer Kraft getretenen Bekanntmachung über die Unterscheidung zwischen konzentrativen und kooperativen Gemeinschaftsunternehmen führte die Kommission aus, eine Koordinierung des Wettbewerbsverhaltens der Mütter müsse als sehr wahrscheinlich angenommen werden, wenn zwei oder mehr Mütter ihre Tätigkeiten in erheblichem Ausmaß in demselben räumlichen und sachlichen Markt wie dem des Gemeinschaftsunternehmens fortführten.
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Zu Recht leitet der BGH aus dieser regelmäßigen Erwartung aber keine Vermutungs- oder Beweisregel ab. Für einen generellen Erfahrungssatz, der dieser „regelmäßigen Erwartung“ entspricht, fehlt weiter der empirische Beleg.
16 Die Bekanntmachung der Kommission trug dem durch eine Reihe von Einschränkungen Rechnung. „Objektive Gründe“ für eine Beibehaltung der Tätigkeiten der Mütter auf dem Markt des Gemeinschaftsunternehmens sollten die Plausibilität einer wettbewerbsbeschränkenden Koordinierung ebenso einschränken wie eine, verglichen mit den Aktivitäten der Mütter, untergeordnete Bedeutung des Gemeinschaftsunternehmens.
Bei der Beurteilung wettbewerbsbeschränkender Wirkungen des Gemeinschaftsunternehmens Ost-Fleisch spricht der BGH einer Tatsache besondere Bedeutung zu. Nach unbeanstandeten Feststellungen hätten die beiden Großunternehmen der Fleischindustrie bei der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens eine „Steigerung der Wirtschaftlichkeit“ erhofft. Dies erscheint so banal,
ZWeR 2003, 193dass man zögert, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Kaum ein Unternehmen wird sich auf das häufig zweifelhafte Vergnügen eines Gemeinschaftsunternehmens einlassen, wenn daraus nicht mindestens handfeste wirtschaftliche Vorteile zu erwarten sind. Nach den Feststellungen des KG erwarteten die Mütter die aus Sicht des anwaltlichen Beraters üblichen Einsparungen auf der Kostenseite: Einsparung von Verwaltungskosten durch Zusammenlegung, arbeitsteilige Spezialisierung mit entsprechend niedrigeren Gestehungskosten, Senkung der Weiterverarbeitungskosten durch Synergieeffekte.
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Die Schlussfolgerungen des BGH aus der angestrebten Steigerung der Wirtschaftlichkeit sind dagegen überraschend. Weil eine Verbesserung der Erlössituation voraussetze, dass Kostenvorteile nicht in vollem Umfang an Abnehmer weitergegeben werden müssten, sei es aus Sicht der Mütter „kaufmännisch vernünftig, im Verhältnis zu dem Gemeinschaftsunternehmen und damit zugleich auch untereinander auf Preiswettbewerb zu verzichten“.
18 Zur Begründung dieser These lässt sich wenig, wohl am allerwenigsten kaufmännische Vernunft anführen. Die beabsichtigten Maßnahmen setzten ausschließlich auf der Kostenseite der – schlecht ausgelasteten – ostdeutschen Schlachtbetriebe an. Sie hätten daher auch dann zu einer Verbesserung der Ergebnissituation dieser Betriebe geführt, wenn die Mütter ihr bisheriges, unabgestimmtes Preisverhalten fortgesetzt hätten. Das Koordinierungsinteresse der Mütter hat sich deshalb durch die angestrebten Kostenvorteile bei den ostdeutschen Schlachthöfen nicht vergrößert.
Der BGH dagegen verbindet das von ihm aus kaufmännischer Vernunft abgeleitete Koordinierungsinteresse mit der Möglichkeit, das Gemeinschaftsunternehmen zur Koordinierung des Marktverhaltens zu nutzen. Schon die „nahe liegende wirtschaftlich vernünftige Orientierung an dem Verhalten der gemeinsamen Tochter“ reiche für die Annahme einer Koordinierung des Marktverhaltens der Mütter aus.
Die Argumentation des BGH ist nicht auf Besonderheiten des Sachverhalts gestützt, sondern ganz allgemein gehalten. Zu Ende gedacht bedeutete sie, dass dann, wenn Mütter und Gemeinschaftsunternehmen auf demselben Markt tätig bleiben, immer auch ein Verstoß gegen § 1 GWB vorliegen müsste. Rationalisierungswirkungen sind die – wettbewerbspolitisch im Übrigen erwünschte – ratio der meisten, wenn nicht aller Gemeinschaftsunternehmen. Ergibt sich schon daraus das anscheinend zwingende Interesse eines Verzichts auf Preiswettbewerb, so ist jedenfalls bei allen Gemeinschaftsunternehmen, die selbst am Markt anbieten und deshalb Preise bilden müssen, der Verstoß gegen § 1 GWB zwingend.
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Zu diesem unzutreffenden Ergebnis gelangt der BGH insbesondere deshalb, weil er ohne Not die qualitative und quantitative Bedeutung des Gemeinschaftsunternehmens für die Mütter völlig unberücksichtigt lässt. Dies ist umso erstaunlicher, als das KG in seinem zweiten, auf die Fusionskontrolle bezogenen Beschluss, einen Gruppeneffekt wegen der mangelnden quantitativen Bedeutung des Gemeinschaftsunternehmens für die Mütter abgelehnt hatte. Die Anteile des Gemeinschaftsunternehmens an den entsprechenden Aktivitäten der Mütter lagen, so das KG, deutlich unter 20 %. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach dem kaufmännisch vernünftigen Verhalten der Mütter deutlich anders. Welchen Sinn sollte es z. B. für die an dem Gemeinschaftsunternehmen mit 1/3 beteiligte Südfleisch machen, ihr Preisverhalten an demjenigen des Gemeinschaftsunternehmens zu orientieren? Unter Berücksichtigung der Beteiligungsquoten waren von der Preispolitik der Ost-Fleisch höchstens 6 % der Südfleisch-Umsätze betroffen. Kaufmännische Vernunft jedenfalls gebietet nicht, an diesen 6 % die Preispolitik für 94 % der Umsätze eines Unternehmens mit knapp 3 Mrd. DM Umsatz auszurichten.
Erklärbar ist die Vorgehensweise des BGH nur vor dem Hintergrund der spezifischen Geschichte von Ost-Fleisch. Das Gemeinschaftsunternehmen stellte sich anscheinend als direkte Fortsetzung der jeweils gescheiterten Bemühungen um ein Strukturkrisenkartell und ein Rationalisierungs- und Spezialisierungskartell dar. Teilweise sind anscheinend selbst Verträge übernommen worden.
19 Aus dieser Vorgeschichte hatte das KG sogar geschlossen, eine Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Müttern sei mit der Gemeinschaftsunternehmens-Gründung bezweckt gewesen.
20 Für ein bestehendes Koordinierungsinteresse der Mütter scheint auf dieser Grundlage einiges gesprochen zu haben. Die unnötig generalisierenden Aussagen des Beschlusses rechtfertigt dies nicht. Auch bei einer Tätigkeit des Gemeinschaftsunternehmens auf den Märkten der Mütter ist eine Koordinierung des Marktverhaltens der Mütter nicht zwingend vorgegeben, sondern nur plausibel. Ein Verstoß gegen § 1 GWB kann nur unter Berücksichtigung der qualitativen und quantitativen Bedeutung des Gemeinschaftsunternehmens sowie weiterer Umstände, insbesondere möglicher Produktdifferenzierungen auf den Märkten, bejaht werden.